Doch die Mauer funktioniert
von Bruno Schirra
22.12.2004
Um sich vor palästinensischem Terror zu schützen, baut Israel entlang seiner Grenze zur Westbank einen Schutzzaun. Die Weltöffentlichkeit ächtet die neue Mauer - doch sie bringt der Bevölkerung die erhoffte Sicherheit.
Die Antwort ist Lachen, eines, das wie Donnerhall aus Abu Hassan herausbricht und die, die um ihn stehen, schauen mit verkniffenen Gesichtern zu, wie Abu Hassan nicht mehr an sich halten kann, wohl auch nicht will. Mit betretenem Gesichtsausdruck nehmen sie dessen Tränen der Heiterkeit zur Kenntnis. „Wann hat unser kleiner Rais so etwas von sich gegeben? Bevor oder nachdem er seinen letzten Scheck von den Juden bekommen hat", gluckste es mit jenem Zynismus, der gerade noch angenehm Angetrunkenen so oft eigen ist, aus Abu Hassan heraus. Er hat an diesem Freitagnachmittag unter den missbilligenden Blicken der anderen, die im Schatten der Mauer umhergelungert haben, schon das eine oder andere Gläschen zu sich genommen.
Als Abu Hassan vernommen hat, dass der palästinensische Premierminister Abu Ala alias Ahmad Qurei von einer „Arpartheitsmauer" gesprochen hatte, davon, dass die Mauer natürlich abgerissen werden müsse, natürlich, denn diese Mauer sei „eine Mauer der rassistischen Teilung", da hatte es Abu Hassan die Tränen in die Augen getrieben. Vor Lachen.
Die Gesichter der Männer um ihn waren wie versteinert. „Was ist so lustig daran?" Abu Hassan schnauft nur kurz. „Die Juden mauern die Palästinenser ein und der palästinensische Premierminister verdient sich ein goldene Nase damit", antwortet er. „Wenn etwas den ganzen Irrsinn dieses Krieges erklärt, dann ja wohl das." Abu Hassan deutet mit weit ausholender Armbewegung auf das Häusermeer von Abu Dis. „Es braucht eine Menge Zement, um all das hier einzumauern", sagt er dann. „Wer den liefert, verdient eine Menge Geld. Und wer glaubst du, liefert ihn?", fragt Abu Hassan mit genüsslichem Grinsen.
Abu Dis ist der Stadtteil in Ost-Jerusalem, gleich hinter dem Ölberg, dort an der Straße nach Jericho, wo der Sage und dem Glauben nach der Heiland der Christen dem Lazarus das Leben wieder eingehaucht hat. Wo jetzt die Mauer ist. Groß und wuchtig und von monströser Hässlichkeit. Quer über alle Straßen. Ein riesiger Betonlindwurm, der sich acht Meter hoch durch Gärten und Hinterhöfe gefressen hat, Menschen wegsperrt, weit voneinander weg. Die Mauer. Die, die Israel baut. Nicht nur hier. Überall. Von Beit She'am im Norden bis nach Arak im Süden. Rings um die palästinensischen Gebiete, die sie, von Beton umklammert, zu einem einzigen Gefängnis zusammenpresst. Ein Eiserner Vorhang für das palästinensische Volk. So erzählen es hier die Leute. Und so ist es auch zu lesen. In Zeitungen und Magazinen. In unzähligen Protestpetitionen von Pax Christi bis hin zur UN. So ist es aber auch im Fernsehen zu sehen. Und macht sich wer, ob all der Macht der Bilder, die Mühe, selbst hinzufahren, kann er sie vor Ort tatsächlich sehen, in Augenschein nehmen: die Mauer.
In Abu Dis. Wo zwischen all dem Dreck, dem Müll, in all dem Staub vereinzelt Katzen umherstreunen, fett und träge und ohne jede Angst vor ausgemergelten Hunden. Der Betonwall macht hier einen Knick, in dessen Ecke sich Abu Hassan nach seinem Lachanfall in einen Sessel plumpsen lässt, sich noch einmal auf die Schenkel klatscht. So abrupt das Lachen aus ihm herausexplodiert ist, so plötzlich verstummt es. „Gott, ist das köstlich", sagt er im schleppenden Texas-Englisch und zeigt auf die nackte Betonwand über sich. Eine Wand muss schon sehr groß und sehr mächtig sein, wenn sie in ihrem Schatten einen so wuchtigen Mann wie Abu Hassan nichtig, fast zwergenhaft klein wirken lässt.
Das war der Moment, an dem die Umstehenden gegangen waren, wortlos und mit gesenkten Häuptern. Später sollte einer der Weggegangenen sagen, dass es für Leute wie Abu Hassan wohl einfach und billig ist, sich dergestalt zu amüsieren. Über sie, die Dagebliebenen, über die Mauer, die ihr Leben zerschneide, „die Wand, die unsere Seele, unsere Vergangenheit, unsere Zukunft zerstört. Abu Hassan hat es einfach. Sein Leben ist nicht einbetoniert."
Was sicher stimmt, denn Abu Hassan war im Sommer nur für ein paar Tage aus den USA, wohin es Marwan Abdelhamid vor dreiunddreißig Jahren bis hin nach Houston Texas verschlagen hat, nach Abu Dis zu Besuch gekommen. „Hier in Abu Dis, der künftigen Hauptstadt unseres großen Rais Abu Ammar", sagt er, „bin ich als Vater meines Sohnes Hassan nur Abu Hassan. In den Staaten dagegen bis ich Mr. Abdelhamid." Irgendwann in diesen dreiunddreißig Jahren war es ihm wichtiger geworden, ein Mister und nicht nur ein Abu zu sein.
Und dann erzählt er, was ihn so ins Lachen getrieben hat, spricht darüber, dass von zwei Fabriken, die den Zement für den Bau der Mauer, die das Heilige Land durchschneiden und Israelis vor Terror schützen und von den Palästinensern separieren soll, die eine zwar in Irland, die andere hingegen im Westjordanland sei, die größte ihrer Art, und sich zudem ausgerechnet im Besitz des palästinensischen Premierministers Ahmad Qurei befinde, da dem das Zementmonopol in Palästina von Yassir Arafat höchstpersönlich als Lohn für seine treuen Dienste übereignet worden sei. Und er gar prächtig am Bau der von ihm so gescholtenen Mauer verdiene. „Aber immerhin, jetzt hat die zukünftige Hauptstadt des Staates Palästina wenigstens eine Attraktion. Sag selbst: Gegen unsere Mauer war eure Berliner Mauer doch nur ein Nichts." Sagt Abu Hassan.
Alle möglichen Friedensplaner haben dem verrotteten Häuserhaufen von Abu Dis die Rolle der künftigen palästinensischen Kapitale zugedacht. Für jene Friedenszeiten, die der seit September 2000 tobende Krieg zwischen Palästinensern und Israelis ins Irgendwann katapultiert hat. Einen Krieg, der wohl weniger Al-Aqsa-Intifada als vielmehr Yassir-Arafat-Intifada heißen sollte, denn der hat diesen Krieg vor vier Jahren ausgerufen, was der letzte große strategische Fehler im Leben des palästinensischen Rais gewesen ist. Hat er doch letztendlich die Staatswerdung Palästinas verhindert. Sein Krieg hat Tausende das Leben gekostet.
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Nach UNO-Angaben sind seit September 2000 mehr als 4500 Menschen getötet worden. Dabei haben die Palästinenser nach einem UN-Bericht mit mehr als 3500 Toten die meisten Opfer zu beklagen. Bei Terror-Anschlägen im Gazastreifen, in und aus der Westbank heraus nach Israel sind von Palästinensern bis heute 987 Israelis getötet und mehr als 6000 verwundet worden.
Die Opfer der mehr als 22500 palästinensischen Terrorattacken waren zu zwei Dritteln Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder, Diskothekenbesucher, Fußgänger, Hochzeitsgäste, Schüler, Rentner. Gestorben im Suicide-Bombing junger, sehr junger palästinensischer Frauen und Männer, bei Feuerüberfällen durch Heckenschützen, erstochen, erschlagen gelyncht. Alles von der UN bestätigte Zahlen - doch davon ist in ihren Berichten nicht so viel zu vernehmen. „Der Weg zur Befreiung von Jerusalem führt über die Gräber der Märtyrer": Getreu diesem Motto der islamisch-schiitischen Revolution des verstorbenen Ayathollah Ruhollah Chomeini hat sich eine ganze palästinensische Generation hoffnungslos in der von Yassir Arafat gelenkten Erziehung auf ihrem Weg hin zum Martyrium in Tod- und Jihad-Geschrei verloren.
Käme wer auf den Gedanken, sich eine Intifada der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein gegen die deutsche Besatzung ihres Heimatlandes vorzustellen, würde sich die Frage der Folgen der dann - hochgerechnet - etwa 14000 Toten und knapp 85000 verletzten Deutschen zwischen Kiel und Garmisch-Partenkirchen stellen. „Keine der beiden Seiten hat ausreichende Schritte zum Schutz von Zivilisten unternommen", kommentierte fein ausgewogen der UN-Beamte für politische Angelegenheiten, Sir Kieran Prendergast, die Opferzahlen, als er die im Sommer präsentierte. Es ist nicht bekannt, ob Sir Pendergast bei seiner Präsentation an das gedacht hat, was im Sprachgebrauch der medialen Öffentlichkeit wie dem der UN und dem des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag nur noch die Mauer heißt.
Die Mauer! Da schwingt zunächst immer nur eines mit: Eiserner Vorhang, hinter dem ganze Völker gefangen werden. Schießbefehl. Todesschützen und Selbstschussanlagen. Israelische Politiker quer durch alle Lager verwehren sich gegen den Begriff. Sie reden vom Zaun, Terrorabwehrzaun oder Sicherheitszaun. Zu Recht. Denn die Mauer - es gibt sie nicht. So surreal die Bilder in Abu Dis, in Ramallah oder weiter oben im Nordwesten bei Kalkiliya auch sind. Nichts von dem, was der Gebrauch des Begriffes widerspiegelt, existiert. Von den bis heute fertig gestellten 220 Kilometer langen Bauabschnitten sind 12,1 Kilometer Betonwälle. Der Rest ist ein 50 Meter breiter Streifen in dessen Mitte der Sperrzaum verläuft, voll gepfropft mit High-Tech-Überwachungsgeräten, die das Eindringen von Terroristen nach Israel verhindern sollen. Knapp 700 Kilometer lang wird das 3,5-Milliardenprojekt sein, 97 Prozent davon aus Maschendraht. Zwei Asphaltstraßen flankieren die Sperranlage, auf denen israelische Soldaten Streife fahren. Von Minenfeldern, Schieß- oder Selbstschussanlagen - keine Spur. Israels Politiker beharren darauf, dass der Sperrzaun nicht eine vorweggezogene Definition künftiger Grenzen beinhalte. Der Zaun, so werden sie nicht müde zu versichern, sei vorläufig, diene nicht der Annexion palästinensischen Gebietes, sei vielmehr durch die Haager Landkriegsordnung und durch die UN-Charta gedeckt.
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Eine Einschätzung, die der internationale Gerichtshof in Den Haag, dem die UN-Vollversammlung die Causa zur Begutachtung vorlegte, mit 14 zu einer Gegenstimme in seinem Gutachten vom 9. Juli 2004 verwarf. Im Vorfeld des Gutachtens waren über 40 Staaten bemüht, den 15 IGH-Richtern ihren Standpunkt zu vermitteln. Eine gigantische Medienkampagne wurde ins Rollen gebracht. Dem Kommentator der SZ kam der mediale Herdenauftrieb so vor, „als entscheide das Verfahren über den gesamten Nahostkonflikt: Da werden Medienkampagnen gefahren, Diplomaten-Heere in Stellung gebracht und die besten Völkerrechtler angeworben, um für die Rechts- und Propaganda-Schlacht in der holländischen Weltjustiz-Hauptstadt gerüstet zu sein".
Nicht über Ursachen, Sinn oder möglichen Erfolg des Zaunes wurde da gestritten. Unter dem Motto: „Die Mauer muss weg" wurde etwas, dass in dieser Form gar nicht existiert, dem Haager Gerichtshof zur Prüfung vorgelegt. Der vermied in seiner gutachterlichen Verurteilung Israels jeden Bezug zu palästinensischem Terror, sah keine Sicherheitsnotwendigkeit, die durch internationales Recht anerkannt ist.
Den Israelis kommt das nur zynisch vor. Die Bewohner des Landes unterstützen nach vier Jahren Intifada mehrheitlich den Bau des Zaunes. Des ständigen Tötens und der Terrorattacken müde beklagen viele frustriert nur eines: Dass mit dem Bau zu spät begonnen wurde. „Gebt dem Krieg eine Chance", schreit im Dezember 2002 ein verzweifelter Israeli seine Qual in die Welt, als sich nach einem Selbstmordattentat in den Straßen Jerusalems über hundert Menschen in ihrem Blut wälzen und zehn von ihnen später sterben. „Hätte es den Zaun schon gegeben, dann wäre das alles nicht passiert", hatte Naim Barazani vor Monaten gesagt. Barazani, dem eines schönen Morgens die abgerissenen Köpfe zweier alter Menschen vor die Füße gefallen waren. Damals am 29. Januar 2004 im Bus der Linie 19 in Jerusalem, als um 8:59 Uhr ein 24 Jahre alter palästinensischer Polizist von Yassir Arafats Autonomiebehörde seinen Suicide-Gürtel zündete. „Hätte es den Zaun da schon gegeben, würden all die anderen noch leben." Ein Gedanke, der auch den deutschen Innenminister Otto Schily getrieben haben muss, als er im September 2004 in Herzliya bei Tel Aviv dem Deutschlandfunk ein Interview gab, für das er zu Hause sogleich heftig gescholten wurde, weil er deutsche Kritiker des Zaunes zurechtwies, die sich „in oberlehrerhafter Weise" über Israel äußerten. So wenig das Wort „Mauer" auf die Sicherheitsanlage zutreffe, so wenig könne man sie mit der Berliner Mauer vergleichen. „Israel ist das Land, das am härtesten und am längsten vom Terror betroffen ist", so seine Rede. Wer gute Ratschläge gebe, solle sich erst einmal in die Situation versetzen, in der sich dieses Land seit Jahrzehnten befinde. „Hier sagt man der Zaun. Ich glaube, es ist auch richtig, dieses Wort zu verwenden." Wer einen Vergleich mit der Berliner Mauer ziehe, irre, fügte Schily hinzu. Denn es gehe nicht darum, „Menschen einzusperren, sie ihrer Freiheit zu berauben", es gehe darum, „sich vor Terroristen zu schützen".
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Dass ein Sicherheitszaun aus israelischer Sicht seine Funktion erfüllt, zeigt der Gazastreifen. Im Gaza-Jericho-Abkommen zwischen der PLO und Israel wurde 1994 ein ähnlicher Sperrzaun vereinbart. Seither ist es keinem palästinensischen Terroristen gelungen, aus dem Gazastreifen heraus in Israel einen Selbstmordanschlag zu verüben. Israelische Sicherheitsexperten legen jetzt die ersten Statistiken über den „Terrorabwehrzaun" vor. In den Regionen, in denen der Zaun schon fertig gestellt ist, ist die Zahl der Terroropfer um 95 Prozent gesunken. Bei Selbstmordattentaten, die vom Westjordanland ausgingen, wurden 2003 in Gebieten, in denen heute der Bau des Zaunes vollendet ist, 46 Menschen ermordet und 221 verletzt. In Gebieten, in denen der Zaun auch heute noch nicht fertig gestellt ist, wurden 2003 89 Menschen getötet. 411 wurden verletzt. Im ersten Halbjahr 2004 wurden in diesen Gebieten 19 Menschen getötet und 102 verletzt. In Gebieten, in denen der Zaun vollendet ist, starben im selben Zeitraum keine Menschen.
Aber das sind Zahlen, die den Leuten in Abu Dis oder denen oben in Kalkilya nicht viel sagen. Abu Hassan, den an diesem Freitagnachmittag irgendwann die Ernsthaftigkeit wieder eingefangen hat, sitzt nun im Schatten der Mauer, schaut fast verloren in die leeren Gassen von Abu Dis.
„Natürlich leben die Leute hier in einem Gefängnis. Mit Mauer aber auch ohne. Vier Jahre der Intifada und jetzt geht es den Leuten schlechter als je zuvor." Er zeigt auf die Mauer: „Wahrscheinlich wird dieses monströse Ding hier seinen Zweck erfüllen", meint er. Und schweigt. „Für eine gewisse Zeit. So wie es um Gaza herum funktioniert hat. Aber der Hass wird weiterwachsen. Hinter der Mauer. Sie werden nach Mitteln suchen, wie sie das Ding überwinden können. Sie werden sie finden. So wie in Gaza." Was Abu Hassan damit meint, hat sich zwei Tage zuvor in Kfar Sederot, einer israelischen Stadt im Negev gezeigt. An jenem Mittwochmorgen schlagen dort zwei Kassam-Raketen ein. Sie werden aus dem Gazastreifen von Terroristen der palästinensischen Hamas abgeschossen. Die Raketen töten Dorit Aniso, zwei Jahre alt, und Yuval Abebeh, vier Jahre.
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© Cicero 2004
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